Gerade sehe ich meine Fotos nach, die ich im Laptop gespeichert habe, und finde diese Aufnahmen, die fast schon zwanzig Jahre alt sind und von einem Ausflug nach Mojen stammen, einem früher einmal verwunschenen Dorf zwischen Schahrud und Tasch in Nordost-Iran. Ich hatte Freunde gebeten, mich doch einmal dorthin mitzunehmen, denn ich hatte dieses Dorf noch von früher her in Erinnerung und wollte es unbedingt wieder sehen.

Dorf Mojen bei Schahrud
Den Sommer 1963 hatte ich nämlich über zwei Monate lang in Tasch verbracht, einem hoch in den Südhängen der Alborz-Berge gelegenen Dorf, ca. 40 km nördlich von Schahrud entfernt. Es war damals, als es noch keine wassergekühlten Klimaanlagen gab, wegen seines angenehmen Klimas bei der hitzegeplagten Bevölkerung vom Rande der Salzwüste um Schahrud, Semnan und der Ebene von Gorgan im Norden – auf der anderen Seite des Alborz-Gebirges, aber im Sommer nicht minder heiß – als Sommerfrische beliebt.

Für die Einwohner bedeuteten die Sommerfrischler ein willkommenes Extraeinkommen, weswegen diese gerne gesehen waren. Tasch war ein typisches Bergdorf, am Fluss Tasch und schon etwas höher in den Bergen gelegen. Es hatte hübsche Holzhäuser mit Veranda und Hof, die von den Bewohnerinnen (das war Frauensache) mindestens einmal zu persisch Neujahr, wenn nicht gar zweimal, per Hand mit einer Mischung aus weißem Lehm und Wasser bestrichen wurden, so dass sie immer adrett und sauber waren.

Dorf Mojen bei Schahrud
Die Innenräume hatten runde oder eckige Nischen in den Wänden, in denen – sehr praktisch – Koran, Lampen, Geschirr und sonstige Wertgegenstände außer Reichweite der Kinder aufbewahrt wurden. Die Küche war auf der Veranda und die Toilette weit draußen am anderen Ende des Hofes – sehr hygienisch. Man kam gut ohne Möbel aus: des Morgens wurden die Baumwoll-Matratzen eingerollt an der Wand platziert, man saß komfortabel auf Sitzkissen und an die mit bestickten Tüchern bedeckten Bettrollen angelehnt, und zum Essen wurde das Speisetuch ausgebreitet. Innerhalb des Hauses war Schuhe ausziehen ein Muß. Es lebte sich sehr gemütlich in so einem angenehm kühlen Domizil, das Leben war geruhsam, es gab ja noch keine großen Abwechslungen wie Fernsehen, das man aber auch nicht vermisste, lieber hielt man einen Plausch mit anderen Sommerfrischlern in der Nachbarschaft oder den Einheimischen. Und außerdem konnte jeder, wer wollte, Wanderungen in der Umgebung unternehmen, entlang des Flusses Tasch zum Beispiel oder auf den nächsten Hügel, von wo aus man mit einer schönen Aussicht belohnt wurde.

Innenansicht eines Hauses im Dorf Mojen
Eine vor allem den Einheimischen willkommene Abwechslung war, wenn sich Jäger wie mein Mann und seine Jagdkumpel mit Mulis und Treibern auf den Weg in die Berge machten und meistens entweder Mufflon oder Steinbock erlegten, über dessen Fleisch sich hauptsächlich die Dorfbewohner riesig freuten.
Eine weitere Abwechslung war der gelegentliche Besuch von befreundeten Familien, denen man bereitwillig das zweite Zimmer überließ, blieb der doch in der Regel mindestens mehrere Tage, wenn nicht gar Wochen, schließlich war die Anreise lang. Da man meine Vorliebe für „alte Häuser“, also Altertümer kannte, schlug uns einer dieser Freunde eines Tages vor, ein Dorf namens Mojen in der Nähe zu besuchen. Damit mein Mann auch Geschmack an der Exkursion finden würde, könnte er ja sein Jagdgewehr mitnehmen und sein Waidmannsglück unterwegs versuchen.
Das klang viel versprechend. Wir fuhren also in zwei Jeeps los, erst auf der gut befestigten Straße nach Süden, also Richtung Schahrud, der nächsten Kreisstadt. Nach einigen Kilometern bogen wir dann aber rechts ab in ein Seitental. Auf holperigem, staubigem Weg ging es entlang, bis dieser plötzlich eine Rechtskurve machte, und sich ein faszinierender Anblick bot: Vor uns auf einem Hügel lag ein Dorf wie eine Illustration zu einem Geschichtsbuch über Siedlungen in alten, längst vergangenen Zeiten. Sogar unsere iranischen Begleiter, selbst die Damen, waren einen Moment lang fasziniert. Ein Bild wie aus Tausend und eine Nacht. Häuser schmiegten sich an den Hügel bis oben hinauf, eines über und neben dem anderen, dazwischen sehr enge Gassen. Und das alles war in faszinierenden roten Ockertönen gehalten. Ein rotes Dorf aus dem Mittelalter oder gar aus vorgeschichtlicher Zeit.

Wir stiegen aus und machten uns daran, den Ort zu erkunden. Die archaisch anmutenden Häuser aus Holz und Geröllsteinen waren teilweise mit Lehm verputzt, mal tiefrot und mal beige-rosa. Zur Straßenseite waren sie fensterlos, den einzigen Eingang bildete eine Holztür mit Eisenbeschlägen, so niedrig, dass man sich tief bücken musste, um einzutreten. Wenn man Glück hatte, stand eine der Türen offen und man konnte durch einen schmalen Durchgang einen kurzen Blick in den Hof werfen, um den sich die Zimmer gruppierten, und in dessen Mitte meist ein Brotbackofen stand. Von Strommasten und Radioantennen keine Spur.

In den engen, steilen Gassen wurden meine iranischen Begleiter schnell müde und setzten sich bei der nächstbesten Gelegenheit auf ein Lehmpodest in einem der Höfe, dessen Besitzer offensichtlich aushäusig war. Mich hingegen hielt nichts und ich wanderte immer weiter, an verwundert dreinblickenden Einheimischen und beladenen Eseln vorbei, bis ich oben auf der Spitze des Dorfes ankam, von wo aus ich den Ort in all seiner Pracht bewundern konnte; ein schöner Kontrast der rötlichen Architektur zum Gürtel aus grünen Feldern und Pappeln weit unten. Unterwegs versuchte ich ab und zu, mit den sich als freundliche Menschen erweisenden Einheimischen ein paar Worte zu wechseln, wobei ich wegen des Dialektes wenige Probleme hatte, denn von Gorgan her war ich schon einen ähnlichen Dialekt gewohnt. Erstaunlich war hier, dass sowohl die Männer als auch die Frauen eine Art rot-blau-gewürfeltem Tschador trugen, unter dem man ihre einheimische Tracht erkennen konnte. Aber das Staunenswerteste war: die Männer spazierten nicht untätig herum, sondern verspannen auf einer mitgeführten Spindel mitsamt Wirtel Wolle zu Garn! Sie sahen das offensichtlich als die natürlichste Sache der Welt an und verrichteten diese zugegebenermaßen bei Männern woanders in der Welt, vor allem den orientalischen, ungewohnte Tätigkeit mit zufriedenen Mienen. Überhaupt war der Gesamteindruck des Dorfes und seiner Bewohner friedlich, man war von der rastlosen neuen Zeit noch nicht eingeholt worden.
Leider hatte ich nur einen alten Fotoapparat mit Schwarz-Weiß-Film dabei und die Bilder sind auch nicht spektakulär geworden, weil hauptsächlich die lieben Bekannten immer mit aufs Bild wollten. Wie bedauerte ich es, keinen Farbfilm oder gleich eine Super-8-Kamera dabei gehabt zu haben, denn nur zu gerne hätte ich das alles dokumentiert. Wie sich herausstellte, wäre das auch bitter nötig gewesen.

Dorf Mojen 1963
Denn als ich vor ca. zwanzig Jahren wieder einmal in der Gegend Gorgan war, nahmen mich Freunde aus Aliabad mit, die ihre Verwandten in Schahrud besuchen und mir auf meinen großen Wunsch hin bei der Gelegenheit das Dorf Mojen wieder zeigen wollten. Dieses Mal hatte ich natürlich einen Farbfilm dabei und ich war schon gespannt, Mojen endlich wiederzusehen. Wie groß aber war meine Enttäuschung, als wir um die Ecke bogen und Mojen vor uns liegen sahen: es war nicht mehr wieder zu erkennen. Zwar handelte es sich immer noch um ein Dort auf einem Hügel, aber die schöne archaische rote Architektur war einer gesichtslosen Siedlung gewichen; an ihrer Stelle standen Allerwelts-Ziegelhäuser mit Eisenfenstern- und Türen. Strommasten und Antennen überall. Auch die Menschen sahen anders aus: die Männer trugen keine rot-blau-gewürfelten Tschadors mehr und die Frauen islamische Einheitskleidung, jetzt hatten sie meist einen schwarzen Tschador umgebunden. Ganz wenige trugen wenigstens noch so etwas wie eine reduzierte Tracht. Keine Spur mehr von den mit Spindel und Wirtel fleißig hantierenden Männern. Enttäuscht stieg ich durch die engen Gassen immer weiter hinauf, an Lieferwagen, Mopeds und alten Autos vorbei, bis ich ganz oben ankam. Da standen sie noch: nur noch wenige der alten roten Häuser mit ihren abgerundeten Formen, den niedrigen Holztüren und den Brotbacköfen in den Höfen. Ich stürzte mich mit der Kamera darauf und ärgere mich noch heute, dass ich nicht mehr Filme dabei hatte. Mit der Digitalkamera wäre mir das nicht passiert, ich hätte Hunderte von Bildern geschossen. Trotz allem war ich aber froh, dass wenigstens noch diese paar alten Häuser übriggelassen worden waren. Ich frage mich, ob das Ministerium für Denkmalschutz der Islamischen Republik inzwischen nicht ein Einsehen gehabt und die wenigen verbliebenen Gebäude zum Denkmalschutz erklärt hat.
Wir besuchten im Anschluss noch das Museum in Schahrud, wo man Dinge wie die rot-blau-gewürfelten Tücher und die Spindeln mit Wirteln, die Brotbacköfen oder auch schon mal eine Wiege mit Loch in der Mitte bewundern konnte.

Museum in Schahrud
Ich frage mich auch, wie viele der alten sehenswerten Ortschaften des Landes der Spitzhacke zum Opfer gefallen und für uns unwiederbringlich verloren sind.
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O-Ton aus meinem Brief an meine Mutter vom 16.8.1963:
… Einmal besuchten wir ein benachbartes Dorf per Jeep, das um einen Hügel herum gebaut war und mit seinen mit Lehm verputzten hohen Steinmauern, den fensterlosen roten Lehmhäusern, die alle ineinander verschachtelt waren, und deren Türen so niedrig waren, dass man sie nur stark gebückt betreten konnte, ganz vorgeschichtlich anmutete. Man sollte eine Farbfilmkamera haben, dann könnte man die herrlichsten Reportagen bringen.
